Thursday 18 December 2014

Verbotene Fruechte

Verbotene Fruechte

Viele Australier und Neuseelaender haben sie schon gesehen. Nicht die verbotenen Fruechte. Nein, Ringelschwanz Possums, Pseudocheirus peregrinus. (Manche Leute sprechen auch penetrant von Opossums, wie in 'Oh, Du Froehliche'). In Australien sind das geschuetzte Tiere, Beuteltiere wie das Kaenguru. Sie sind eher nachtaktiv. Possums sind in Neuseeland eine importierte Pest. Sie werden dort absichtlich mit dem Auto ueberfahren, hier in Australien eher aus Unachtsamkeit oder einfach in unvermeidlichen Zivilisationsunfaellen. Wenn die posierlichen Tierchen aus der Naehe gesehen werden, sind sie oft nicht mehr sehr sehenswuerdig. Sie sind platt oder liegen halblebendig auf der Strasse oder am Strassenrand. Dieses Bild wollte ich fuer mich selbst und die Possums korrigieren, sie auch nicht als handzahme Haustiere mit schnusigen Kulleraugen in Szene setzen, sondern in ihrer eigenen, natuerlichen Lebenswelt.

Als ich mit bellender Schuetzenhilfe unseres Nachbarhundes in unserem Garten ein Ringelschwanz-Possum erspaehte, war ich Feuer und Flamme. Welch einzigartige Gelegenheit, einem dieser Tiere in freier Wildbahn und dann noch bei relativ guenstigen Lichtbedingungen am Tag zu begegnen! Der Griff zu Kamera und langer Linse war nichts als logisch und intuitiv. Klar hatte ich mir vorher Gedanken gemacht, wie ich so ein Tier ablichten moechte: moeglichst natuerlich, natuerlich! Ich war mir bewusst, dass die ersten Fotos wegen des Gegenlichts platt und schwarz herauskommen, der Hintergrund steril und kuenstlich wirken wuerden.

Irgendwann fiel auch bei mir der Groschen, dass ich aufs Dach unseres Gartenhaeuschens steigen koennte. Denn das Possum war von meinen Aktivitaeten ziemlich unbeeindruckt. Da war ich auf Augenhoehe mit dem Tier und mit etwas Glueck haette ich auch die Sonne im richtigen Winkel fuer ein gelungenes Foto. In der Tat gelangen mir viele Fotos. Zwar hatte ich das falsche Objektiv, ein 100-400mm Zoom Objektiv, mit aufs Dach genommen. Meine 100mm Makro-Linse waere eine bessere Entscheidung gewesen. Aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Wer rechnet schon mit einem Gluecksfall und versichert sich nicht gegen den Normalfall?

Fuer mehr als eine Stunde war ich fuer den richtigen Schuss bereit, lag oder sass wie ein Scharfschuetze auf dem Giebeldach, weit entschwebt und fern von Grund und Boden. Hier oben genoss ich nicht nur die Zweisamkeit mit dem Possum. Die Aussicht ueber und in alle Nachbargaerten war bezaubernd. Klar, ich wurde beobachtet, unauffaellig, nachbarschaftlich diskret. Ploetzlich stand die Nachbarin nur noch einige Meter entfernt fast unter mir, den Gartenschlauch in der Hand. Um sie nicht zu erschrecken, kramte ich einige Worte hervor und erklaerte mein Tun. Es klang wohl wie eine Entschuldigung, dass ich kein Paparazzi sei, nicht meine Nachbarn beobachte und fotographiere, sondern ein Possum im Baum. Bestimmt seltsam, wenn man sein erstes Gespraech mit den Nachbarn vom Dach des Gartenhaeuschens mit einer langen Linse in der Hand bestreitet. Aber wir lachten darueber, teilten einige Worte ueber die Possumsgeschichte hinaus.

Nun gut, ich hatte einige Chancen fuers perfekte Foto des Possums. Viel haengt aber immer vom Glueck ab. Im digitalen Zeitalter haben dokumentarische Fotos nicht mehr viel Wert. Sie koennen produziert werden und bieten kaum etwas, das neue und frische Perspektiven zeigen koennte. Man will ja die Betrachter eines Fotos gefangen nehmen, auf friedliche, unaufdringliche Weise. Ja, ich suchte nach etwas Besonderem. Nicht fuer mich, sondern fuer das Possum. Aufs Gartenhausdach steigen und ein Foto knipsen ist keine Kunst, sondern harte, schmutzige Arbeit. Die Fotos sollen aber nicht auf meiner Computer Harddisk vergammeln, Staub ansetzen und in Vergessenheit geraten, ob sie nun als Kunst betrachtet wuerden oder nicht.

Die Sonne und die Aeste machten viele meiner Versuche unbrauchbar. Im Bild das ich 'Verbotene Fruechte' nenne, schien mir ein Moment festgehalten, wo das Possum zum naechsten Fuechtchen schielt. Es traeumt davon, wie gut es schmecken wuerde. Es vergisst all die uebrigen reifen, roten Fruechte und fokussiert auf die Zukunft, auf das was sein wuerde oder sein koennte. Zufall, dass diese paradiesische Situation in Rot und Gruen gehalten ist, den Farben des Weihnachtszirkus, des kommerziellen Konsumrauschs und der vorgetaeuschten, hochgewuergten Emotionen, die damit einher gehen.


Die Fotosession mit dem Possum war ein Erfolg. Das Rot und Gruen entgeht auch dem Rummel und siegt einmal ueber das allgegenwaertige Braun. Nichts gegen etwas Blau im Bild, aber Fotografie funktioniert eben nicht nach demokratischen Grundsaetzen. Farb- und Formkomposition in Ehren, aber bei Fotographie geht es eben auch um Kontext. Solche Bilder entstehen sonst im Zoo, nicht im eigenen Garten. Wann lernt man schon seine Nachbarn auf diese Weise kennen, naemlich wenn man ueber seinen Zaun und fremde Zaeune in geschuetzte Welten schaut?

Das Possum starrte fuer lange Minuten weg von der Sonne, weg von mir und der Kamera. Die Sonne und das Licht entschwanden langsam. Da man ja selten auf einem Dach verweilt, nahm ich das auch als Anlass zur Sturmvorbereitung und Schadenspraevention. Der gute Buerger reinigt hierzulande vor der Sturmsaison im Januar die Dachrinnen. Der mir zwischenzeitlich ebenfalls zuwinkende Nachbar kam herbei fuer einen Nachbars-Schwatz. Es tat mir leid, den Glanz aus seinen Augen verschwinden zu sehen. Meine exotische Sprache war Schweizerischer Herkunft. So gross waren seine Hoffnungen gewesen, dass sich Nationalgenossen grenzueberschreitend treffen wuerden, so gross und offensichtlich war die Enttaeuschung darueber, dass ich nicht aus dem Gebiet um Suedafrika stammte, wie mein Akzent es verhiess. Immerhin hatten wir eine gute Zeit und ich inspirierte den Nachbarn auch zu gutem Buergertum - er schritt von dannen, um seine Dachrinne ebenfalls von Laub zu entledigen und fuer guten Abfluss von Regenmassen zu sorgen.

Bildselektion sollte nicht zum Aufgabenbereich des Fotographen gehoeren. Es sind nicht seine Emotionen, die wichtig sind. Vielmehr sind es die Betrachter, die ueber die Qualitaet des Bildes und des Kontexts befinden. Betrachter sollen Bilder und Bildausschnitte auswaehlen, die ihre Sprache reden und fuer ihre Zwecke dienlich sind. Als Meister im Verdraengen von wichtigen Aufgaben und Angelegenheiten, war ich am naechsten Morgen bei der Bildinspektion froh ueber die Ablenkung durch eine Freundin, mit der ich oft ueber Fotographie sinniere. Sie legte mir per Email nahe, das Werk von Hannes Schmid anzuschauen, falls ich das von Australien aus auch tun koenne. Ja, ich konnte und ich lege es auch vielen anderen Leuten ans Herz, dies zu tun. Hier sind die Links http://www.zueriplus.tv/konkret.htm und ein Interview mit Hannes Schmid http://hannesschmid.ch/hss/index.php

Mehrere Stunden war ich damit beschaeftigt, mich in diese Welt hinein zu denken, sie mit meiner eigenen Welt zu verknuepfen. Ja, wie verknuepft man die Fotographie eines Possums mit dem Leben von Leuten, die auf einer Abfallhalde in Cambodia leben? Ich war fasziniert vom Wirken und dem Werk von Hannes Schmid. Er hatte davon gesprochen, dass seine Bilder von einem anderen Kuenstler gestohlen wurden. Diebstahl von Kunst reihte sich fuer mich thematisch direkt neben den Diebstahl eines gluecklichen Lebens in Elendsvierteln in aller Welt. Wie konnte jemand den weltberuehmten Marlboro-Man stehlen oder seine Werke? Wie koennen nachts Kinder von der Abfallhalde fuer Prostitutionszwecke abgeholt, ihrer Kindheit und eines gesunden Lebens beraubt werden? Beim einen Thema kommt mir die Kotze hoch und allerlei Verdraengungseffekte werden aktiviert. Besinnung auf das eigene Leben und die eigene Gesundheit ist angesagt. Wirklich? Keine Fata-Morgana, aber die Verzweiflung ueber den Umstand, dass ich nicht die ganze Welt veraendern kann und sollte. Das Possum hat nur wenig Verknuepfungspunkte mit Menschenportraits in tierisch unwuerdigen Verhaeltnissen, schon mehr mit Datenklau.

Diebe auf dem Internet, Leute denen es an Phantasie und Schaffenskraft mangelt, eigene Gedanken und Bilder zu kreieren - sie hingegen tummeln sich in meinem Vorgarten, im elektronischen Vorgarten. 'Teilen' oder 'nicht teilen' das ist die allgegenwaertige Frage. Wie nerven und verunsichern Leute die stehlen, Eigennutz und Profit ueber alle anderen Werte stellen! Aber halt: hat der Diskurs darueber denn je stattgefunden, wie legitim es sei, Kunst und Gedanken zu stehlen und unter seinem eigenen Namen weiter zu verbreiten? Wie zwiespaeltig ist unser Denken, wenn wir auf allerlei Medien freiwillig teilen, aber sensibel reagieren, wenn unser Werk gestohlen, zur Unkenntlichkeit entfremdet und fuer eigene Zwecke eingesetzt wird, oder wenn wir dafuer schlicht nicht die Anerkennung ernten, die uns zusteht. Meine juristischen Freunde wuerden mich jetzt ueber die Merkmale aufklaeren, die zum Tatbestand des Diebstahls gehoeren. Schon da bleibt die unpraktikable Referenz von Quellenangaben auf der Strecke, illustriert die selbstreferenzielle Identitaetskrise der heutigen Zeit und das unkritische Anhaften an Mythen. Moral wird wegdefiniert zugunsten einer juristischen Illusion.

Kunstwerke sind verbotene Fruechte, geboren um das Leben zu versuessen. Kuenstler treiben sich nicht auf irgendwelchen Daechern herum und warten auf die Schlange, die dem Possum verwehrt von der Ficus-Frucht zu naschen. Ich ueberlegte mir, ob ich mein Possum-Bild im Vollformat allen Internet-Dieben zur Verfuegung stellen sollte, quasi als fruehzeitiges Weihnachtsgeschenk. Warum sich nicht hineinschicken, wenn man sich dem Faktischen nicht entziehen kann. Das ist wie mit Adobe Creative Cloud. Ja, man kann aus den Fruechtchen Weihnachtsbaum-Dekor fotoshoppen, dem Possum eine Weihnachtsmann-Muetze aufsetzen. Solche Dinge gehen dann virulent oder viral, wie die antibiotika-resistenten Fiecher in Spitaelern. Im Gesichtsbuch und schliesslich im Geschichtsbuch gehen die eigentlichen und wahren Botschaften verloren. Die laecherlich-duemmlichen Weinnachts-Mythen, die damit verknuepft werden koennen, spirallisieren sich hingegen jedes Jahr unweigerlich zu Social Media Knuellern - ganz wie im nicht-elektronischen Leben, falls es dies noch gibt. Lasst uns an all die platten Possums auf der Strasse denken, und den kirchlichen Moralfinger erheben. Ihr sollt nicht mutwillig oder fahrlaessig Possums ueberfahren, wenn Ihr Euch in den Weihnachts-Verkehr begebt.

Zurueck zum Diskurs ueber gestohlene Kunst. Offenbar sind nicht nur Museen und Kunstsammlungen von diesem Phaenomen betroffen. Die Schweiz ist eine Fata Morgana - wie Hannes Schmid ganz richtig ausfuehrt. Dekonstruiert und postmodernistisch rekonstruiert. Da gibt es sogar fuer den legalen Ideenklau eine polizeistaatsaehnliche Institution, die Billag - eine dubiose Organisation, die dekonstruiert gehoert, aus unserem kollektiven Gedaechtnis fuer immer ausgemerzt. Oder war es die Suisa. Ich habe es vergessen, denn in Australien wird Freiheit hoeher eingestuft als regionale Entwicklungspolitik mit ebenso unnoetigen wie unsinnigen Staatseingriffen zum Schutz von Partikularinteressen. Es lebt sich wie im Wilden Westen, im Marlboro-Land, wo Rauch eher auf Busch-Feuer hindeutet als auf eine Zigarette. Nicht George Bush oder Wilhelm Busch uebrigens. Zimperlich geht man mit geistigem Eigentum, Datenschutz oder gar Netzdemokratie wohl nicht um. Das Netz ist eher ein Lasso. Fotographie floriert, weil Videografie das Nationale Breitbandlasso schlicht ueberfordert.

Ich bastelte meine eigene Version, was Hannes Schmid widerfahren sein konnte, rein theoretisch und ziemlich spekulativ zusammengefuegt. Seine Information aus dem Lebenslauf wurden von mir entliehen und mit dem Interview verbunden. Als potentiellen Taeter und Kunstdieb entlarvte ich dadurch Richard Prince. In dubio pro reo. Es macht nichts, wenn er nicht wirklich der vermeintliche Kunstdieb war. Das ist wie bei Agatha Christie, wo man eliminieren kann oder eliminiert wird. Oder bei den Endemol Ueberlebens Reality Shows. Spass. Das ist kunstvolle Lynchjustiz, hat nichts mit Juristerei oder Rufschaedigung zu tun. Noch weniger mit Sachverstand oder gruendlicher Recherche.

War es denn Richard Prince? Ich machte mir ein schlechtes Gewissen, dass die Schuldfrage des Kunstraubs mich fast mehr in ihren Bann zog, als die Geschichte eines verbrannten Kindergesichts und der wohltaetigen Institution, die fuer die Behebung solch systematischer Horrorgeschichten mit Herzblut und Engagement errichtet wurde. Vielleicht verbinden sich aber hier Themen, denn hinter beiden Geschichten steckt Leid, entstanden aus der Gier und Habsucht sowie der Ruecksichtslosigkeit einiger weniger. Aber vielleicht versteckt sich dahinter auch ein System und Lerngelegenheit?

Die postmoderne Wahrheitsmaschine, Google, zaubert auch zielfuehrend die Homepage von Richard Prince auf den Bildschirm. Da kann man ueber systematischen Datenklau und Kunst lesen. Auch diese Lektuere sei empfohlen. Das kommt weniger HSG-konform daher, weniger organisiert, weniger direkt auf die Veraenderung der Gesellschaft gerichtet. Es muss ein Trauma darstellen, von Richard Prince kopiert worden zu sein, fiktiv oder real. Seine Methoden sind ruchlos, schaendlich und so verwerflich wie die Aktivitaeten der 031 Sprayer in Bern, die mit ihrem Bloedsinn auf eine Schweizer Gesellschaftsschicht abzielt, der sie selbst entsprangen, und die ihre Spraydosen wohl finanziert. Der Erfolg gibt aber immer recht: was viral geht und die Illusionsspirale hin zur Wahrheit emporzugleiten vermag, das legitimiert selbst selbstverliebte Onanier-Anarchisten mit Hang zu Gewalt und Vergewaltigung mindestens der Gefuehlswelt mancher Zeitgenossinnen und -genossen.

Immer noch ganz in der Unschuldsvermutung, erhalte ich aber unverhofften Aktualitaetsbezug bei Richard Prince. Und ich spreche damit nicht die Banalitaet mancher Kunst an. Nein, die Fliege im HSG-Boden, die ist wichtig nicht nur wegen des politologisch-politischen Beziehungsgeflechts der Kunstbrueder. Im Ernst, bei Erika ist nicht nur Fliegenkacke oder Pippi List - wie man sich in Kuenstlerjargon wohl ausdruecken duerfte - dran. Aktualitaetsbezug erhalte ich durch das Phaenomen von allgegenwaertigem Datenklau und Datenmanipulation, aber auch von einer Konvergenz von Geschmack und Ausgrenzung von Andersdenkenden und -handelnden, von der Ohnmacht der Gerechtigkeit und der Arroganz der Ungerechtigkeit.

Richard Prince ist der Kuenstler, wie man ihn sich vorstellt, obsessiv und ueberzeichnend, konfrontierend und ganz und gar nicht regelkonform. Es ist unerreichte Genialitaet, dass er frei eingesteht, im Internet auf Diebestouren zu gehen, ja dass er manchmal sogar von den Opfern dazu aufgefordert wird. Nicht dass er internet-technisch sonderlich bedarft waere. Eine Analogie zu Hannes Schmid, der nur mit Analogkamera und zwei Linsen fotographiert und Kunst nicht durch Technik, sondern Aussage definiert wissen will. Respekt vor beiden, ehrlichen Respekt, aber in unterschiedlicher Auspraegung.

Richard Prince ruehmt sich, eine neue Foto-Portrait-Kunstform erfunden zu haben. Man eigne sich das Lieblings-Selfie der portraitierten Person an, fotographiere es und kassiere dafuer Geld ein. Wie genial, wirklich! Das beweist Zeitgeist und ein tiefes Verstaendnis fuer die Psyche der heutigen Menschen. Prince schafft den Durchbruch in die digitale Welt etwas spaet(er), findet ueber Facebook den Weg zu Twitter und Instagram. Da wird zusammengeramscht und umdefiniert. Was ist denn das anderes als ein DJ, der Platten auflegt und zusammenmixt, ohne je eine eigene Zeile Musik geschrieben zu haben, sondern der Bekanntes nach neuem Zeitgeist aufpaeppelt? Wir leben in der Welt von Manipulation, von Umdefinition, von legitimiertem und unlegitimiertem Plagiarismus, von Tabu-und Vertrauensbruechen. Richard Prince schildert sich als Hippie und hinterfragt, boykottiert und sabotiert damit das Eigentumsverstaendnis, propagiert freie Liebe und freie Kunst. Er war unserer Zeit damit etwas voraus oder eben voll daneben. Da gibt es weitaus unbedarftere Zeitgenossen mit weit niederwertigeren Bewegungsgruenden, die sich selbst als Datenpiraten, Lurkers, Trolls usw. entlarven.

Das ist auch nicht meine Kultur. Aber als Fotograph muss man sich unangenehme Fragen gefallen lassen und reflektieren. Was sind denn wirklich meine eigene Ideen und Leistungen? Das arme Possum wird mich nicht verklagen koennen. Wie wird ein Foto ploetzlich mein Eigentum? Wenn es mein Eigentum ist, warum deponiere und verwahre ich es dann nicht sicher in einer Schweizer Bank, sondern auf einer ziemlich unsicheren Computer-Festplatte? Da muss doch ein Finanzderivativ fuer Fotographie zu finden sein, das eine Wertsteigerung ohne Publikumsexponierung garantiert. Dumm, dass das Publikum dabei eine wichtige Rolle spielt, die Marktkomponente. Welches Kamel kauft denn Marlboro oder ein Cowboy Bild, wenn es nicht beworben wird? Fuer gewoehnlich gibt es nur minderwertige Fotos und eine beschraenkte Anzahl davon als Appetithaeppchen zu sehen. Sorry Possum, ich habe Deine Aufloesung vernebelt und wie ein Zigarettenpackungs-Krebsgeschwuer wird man Dein Bild trotzdem weiter verwenden oder eben ignorieren.

Wieviel gaebe ich fuer Hannes Schmid's Luxus, und nicht selbst durch meine Fotos gehen und eine Auswahl treffen zu muessen! Die eigentliche Leistung und das Schaffen von Neuem findet urspruenglich im Betrachtenden statt. Da sollten doch auch die Betrachtenden das Vergnuegen haben, auszuwaehlen, welches meiner 230 Fotos des Possums sie anspricht. Das sind etwa 4 Fotos pro Minute, wo doch meine Kamera mehr Fotos pro Sekunde schiessen kann.

Ist es nicht verwegen, die Betrachter des Possumbildes zu manipulieren und Verbindungen zu Weihnachten und dem verlorenen Paradies zu suggerieren? Gruen und Rot sind vorhanden, ohne Scheinheiligkeit. Das Blocher-Braun fehlt, ist ein Possum-Roetlich-Grau-Schwarz. Trotzdem ist das alles nicht explizit im Bild vorhanden. Es schwebt vielleicht im Kontext des Betrachtenden mit. Aber ich bin mir bewusst, dass nur wenige Leute meine Gedankenwelt teilen oder sie in diesem Bild nachempfinden kann, will oder sogar sollte. Kann ein Bild unbeachtet vom Publikum Wert haben und ein schuetzenswertes Kultur- und Gedankengut darstellen? Ach ja doch! Ganz bestimmt.

Wo ordne ich meine eigene Fotographie ein? Bin ich im Zeitgeist von Hans A. Traber stecken geblieben, einem Fernseh-Biologen des Schweizer Fernsehens, der mittlerweile hoechstens Retro-Videoshops und -personen ein Begriff sein duerfte. War Herr Traber ein Nachahmungstaeter und imitierte schon damals David Attemborough? Wurde auch in der Naturdokumentation geklaut, was das Zeug haelt? Wiederum die Frage, ob ich hier erfolgreich war, mein Bild in den Kontext von grossen Persoenlichkeiten mit Verdienstausweis, sowie in die Naehe von grossen Fotographen- und Kuenstlernamen zu bringen, wie es sich fuer modernes Selbstmarketing und Selbstanbiederung gehoert? Hoffentlich nicht. Denn Hand aufs Herz, mein Possum-Bild kann nur jemanden ansprechen, der mit kindlichen Augen in die Welt schaut, viel an Theater und Inszenierung vergisst und realisiert, dass jeder dieses Bild haette schiessen koennen, der bereit gewesen waere, fuer das verbotene Fruechtchen mit gutem Vorsatz aufs Gartenhausdach zu steigen, jeder der ueber die entsprechende Kamera und Linse und grundlegende photografische Kenntnisse verfuegt.

Trotzdem hat das Bild 'Verboetene Fruechte' einen Selbstwert. Ich bin froh, dass es mir gelungen ist, meine Idee eines Possum-Fotos zu verwirklichen. Natuerliche Possum-Fotos duerften Seltenheitswert haben. Das Bild fuehrte mich in einen interessanten Prozess, wo ich mir seltsame Gedanken ueber seltsame Thematiken mache, wo ich Verbindungen zu meinem Leben sowie dem Zeitgeist suche und finde. 18 einigermassen gelungene, digitale Possum-Fotos und eine etwas andere Weihnachtsgeschichte stehen zum Verkauf. Nein halt, nur die Rechte daran werden gegen Entgelt ausgeliehen. Da es eine Rot-Gruen-Jahresend-Geschichte ist, wollte ich noch erwaehnen, dass das Possum wahrscheinlich krank ist und nicht mehr lange zu leben hat. Es ass zwar genuesslich, mit Vorliebe die gelben Beeren (ganz unpolitisch gemeint). Es zeigte Appetit, war aber im Auftreten etwas apathisch und wurde zu Beginn sogar von einem Kraehenvogel verfolgt und bedraengt.

Wer weiss, wofuer die Traene im rechten Auge steht! Nehmen wir an, es sei eine Freudentraene, im Bewusstsein bald von der verbotenen Frucht zu essen und aus dem Paradies vertrieben zu werden. Oder vielleicht war es eine Traene aus Stolz darueber, der Versuchung zu widerstehen? Vielleicht widerspiegelt das traenende Auge die Freude darueber, dass sich jemand Zeit genommen hat, ein Possum im natuerlichen Umfeld darzustellen und einer deutschsprachigen Allgemeinheit vorzustellen. Das platte Possum wird in den Koepfen vieler Automobilisten in Ozeanien weiterexistieren. Aber das Ringelschwanz Possum gewinnt an Leben und ueberdauert in meiner Fotographie. Und es sei nicht zu vergessen, dass jenseits des Gartenzauns Nachbarn zu entdecken sind - vielleicht sogar Nachbarn, denen mit Fotographie auf die Spruenge geholfen werden kann und sollte.


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